WIRGEFÜHL

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.

Amiaz Habtu

38, Moderator und Musiker

„Kinder sind so zugänglich für ein bisschen Fröhlichkeit und Humor. Da brauchst du noch nicht mal deren Sprache zu sprechen“



Lebt in:
Köln

Der Weg nach Deutschland:
1979 im Alter von zwei Jahren von Asmara in Eritrea über den Sudan nach Köln

In Begleitung von:
Seinen Eltern, seiner älteren Schwester, seinem älteren Bruder und einer Gruppe anderer Flüchtlinge

Im Gepäck:
Nur das Nötigste – und viele alte Schwarz-Weiß-Fotos zur Erinnerung


Dass er und seine Familie vor 36 Jahren ausgerechnet nach Köln gekommen sind, war Zufall. Ein Guter, findet Amiaz, der eigentlich Ermias, heißt. Mit seiner unbeschwerten Art passt der VOX-Moderator ziemlich gut in die nordrhein-westfälische Metropole. Doch nicht nur deshalb waren Amiaz’ Anfänge in Deutschland recht leicht. Geholfen hat hier auch ein Mann namens Gert.



Warum musstet ihr fliehen?

Mein Vater hat im Untergrund gegen die äthiopische Besatzungsmacht in Eritrea gearbeitet und war deshalb damals schon zweimal im Gefängnis gewesen. Als ich auf die Welt gekommen bin, war er nicht bei uns, er durfte mich nur durch die Zellengitter sehen. Das hat ihn geprägt. Und als er das dritte Mal gesucht wurde, wusste er außerdem: Wenn er jetzt noch mal gefunden wird, ist das sein Todesurteil. Seine Untergrundorganisation hat ihn angerufen und hat gesagt: Du musst fliehen, jetzt. Wer genau da am Telefon war, weiß er allerdings bis heute nicht.



Und das habt ihr getan.

Das hat erst mal nur er getan. Er hat sich außerhalb der Hauptstadt in einem Waldgebiet versteckt, das zum Teil schon durch die eritreische Befreiungsarmee freigekämpft war. Wir blieben in Asmara, weil alles so schnell gehen musste. Tagsüber flogen noch Kampfjets, die Situation war extrem gefährlich. Meine älteste Schwester hat mir erzählt, dass meine Mutter mit uns drei Kindern und unserer Oma dann in einen Bus in Richtung des Grenzgebiets zwischen Eritrea und dem Sudan gestiegen ist. Immer wieder wurden wir gefragt, wohin wir wollen. Wir haben die ganze Zeit getan, als seien wir auf dem Weg zu einer Hochzeit. Natürlich durfte man auf keinen Fall auffliegen! Als wir da waren, ist meine Oma ausgestiegen, weil sie in Eritrea bleiben wollte. Natürlich haben meine Oma und meine Mutter sehr geweint. Das hat meine Schwester nicht verstanden und immer wieder gesagt: „Wir fahren doch nur zu einer Hochzeit Oma.“ Erst viel später hat sie realisiert, was für ein Abschied das war: Das war das letzte Mal, dass meine Mutter ihre Mutter gesehen hat. Und sie musste sich dabei total zusammenreißen. Zu viel Weinen hätte uns entlarven können. Also, allein diese Situation, puh... Da habe ich immer noch einen Kloß im Hals, wenn ich davon erzähle.



Hast du daran auch noch eigene Erinnerungen oder warst du zu klein?

Ich war zu klein. Das Einzige, woran ich mich komischerweise noch erinnere, ist ein Kamel. Da war dann auch mein Vater wieder dabei. Die Erwachsenen mussten laufen, wir Kinder saßen auf den Kamelen. Als wir Rast gemacht haben, hat sich ein Kamel plötzlich zu mir umgedreht. Das habe ich immer noch vor Augen: So einen riesigen Kamelkopf, der sich umdreht und in meine Richtung guckt. Das Kamel ist dann aufgestanden, und ich wäre beinahe runtergerutscht. Aber meine Mutter hat mich aufgefangen – eine gute Reaktion! Kamele sind groß, ich wäre ganz schön tief gefallen. Später konnten wir im Sudan dann in ein Flugzeug einsteigen. Bis auf meinen Vater, den Verwandte einmal nach Kenia eingeladen hatten, war keiner aus der Familie jemals zuvor geflogen. Das war aufregend, haben meine Eltern später erzählt. Und sie haben auch erzählt, dass ich viel Quatsch gemacht hab auf unserer ganzen Flucht (lacht).



Warst du immer schon der fröhliche Spaßvogel-Typ, als den man dich heute kennt?

Total. Das habe ich von meinem Dad. Der ist genauso!



Hilft so ein sonniges Gemüt, wenn man neu in einem fremden Land ankommt?

Offen zu sein hilft auf jeden Fall. Mein Vater wollte sich, als wir ankamen, auch unbedingt ganz schnell in Deutschland integrieren. Er und meine Mum sind sofort in einen Sprachkurs gegangen und mein Vater hat ziemlich schnell angefangen, wieder in seinem alten Job bei einer Versicherung zu arbeiten.



Hattet ihr auch Hilfe von außen?

Ja. Gert, der lustigerweise neulich erst wieder bei meinen Eltern angerufen hat, nachdem er mich im Fernsehen gesehen hatte.



Und wer genau ist Gert?

Gert war jemand, der sich damals in der Flüchtlingshilfe engagiert hat. Eigentlich genauso wie viele Menschen jetzt. Der ist eines Tages in unser Asylbewerberheim gekommen und hat gesagt: „Hallo, ich bin der Gert, herzlich willkommen in Deutschland.“ Und dann hat er sich um uns gekümmert.



Was hältst du für wichtig, wenn man aktuell als Helfer auf Flüchtlinge zugehen möchte?

Einfach offen und freundlich sein. Gerade Kinder sind so zugänglich für ein bisschen Fröhlichkeit und Humor. Da brauchst du noch nicht mal deren Sprache zu sprechen. Die sind glücklich, wenn jemand vor ihnen steht, vielleicht noch einen Ball in der Hand hat – Fußballspielen zum Beispiel ist eine internationale Sprache, die immer funktioniert (lacht).



Berührt dich die aktuelle Flüchtlingsthematik besonders, weil sie auch Teil deiner eigenen Geschichte ist?

Ich glaube oder hoffe, die aktuelle Situation berührt uns alle! Wir alle hören doch den Hilferuf der Flüchtlinge. Und wenn wir ganz ehrlich sind, war dieser Hilferuf schon seit vielen, vielen Jahren da. Wo genau die politischen Ursachen dafür jeweils liegen, kann ich nicht sagen – und das ist auch nicht meine Aufgabe. Menschlichkeit ist die Ebene, auf der jeder Einzelne etwas tun kann!



Wie sieht diese menschliche Ebene für dich aus?

Die fängt damit an, sich einfach mal in andere Leute, in diesem Fall die Flüchtlinge, hineinzuversetzen. Wenn man sich zum Beispiel vorstellt, man macht Urlaub in Thailand: Wie die ersten Tage mit den vielen Eindrücken, der fremden Sprache, dem fremden Essen und den fremden Menschen da so sind – und wie glücklich man dann über eine Restaurantempfehlung ist oder darüber, dass einem jemand mal unaufgefordert den Weg erklärt. Wenn man da mal drüber nachdenkt, dann wird einem schnell klar, wie unglaublich wichtig schon kleine Hilfestellungen für die Flüchtlinge in Deutschland heute sind. Die machen keinen Urlaub! Die meisten haben nicht mal einen Rucksack dabei! Die wissen nicht, ob sie jemals zurück können.



Wann bist du selbst das erste Mal nach Eritrea zurückgekehrt?

14 Jahre nach unserer Flucht. Ich hatte das Land irgendwie schwarzweiß in Erinnerung, auch weil die Bilder, die meine Eltern uns gezeigt haben, nie in Farbe waren. Und dann war es plötzlich bunt! Ich finde übrigens, auch in den deutschen Medien wird oft ein völlig falsches Bild von afrikanischen Ländern vermittelt: nur Wüste, Kriege, Naturkatastrophen, hungernde Menschen. Hier werden fast nie die schönen, farbenfrohen Seiten der Länder gezeigt, die fröhlichen Menschen – oder dass Eritrea teilweise aussieht wie Italien! Und das Temperament der Leute ist natürlich sehr schön…



Fühlst du dich dort oder in Köln zu Hause?

Ganz klar hier. Eritrea ist mein Geburtsort, dort sind meine Wurzeln. Köln ist meine Heimat. Ich muss ganz ehrlich sagen, als ich damals zurückgekommen bin, hab ich gedacht: „Ah! Schön wieder in Köln zu sein.“ Und wenn ich jetzt die vielen Flüchtlinge sehe, dann denke ich oft: „Oh, Mann! Was hast du eigentlich für ein gutes Leben hier?“ Selbst wenn es Ups und Downs gibt: Ich habe echt ein gutes Leben.