Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.
„An den Geruch der Päckchen aus Deutschland erinnere ich mich bis heute: Das roch nach Wohlsein, das roch nach Freiheit“
Lebt in:
Hamburg
Der Weg nach Deutschland:
1989 mit zehn Jahren im Zug von Gogolin (Polen) nach Hannover, von dort aus ins Vertriebenenhaus in Hamburg St. Pauli
In Begleitung von:
Seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder
Im Gepäck:
Ein Koffer voll Kleider und eine Socke voll Geld
Seine Augen sind so blau, dass er auf Anhieb nicht als Migrant erkannt wird. Daniel spricht nahezu akzentfrei – über seine Flucht spricht er kaum. Dass er durchaus etwas zurückgelassen hat, als er Polen verließ, merke er ganz bewusst erst, seit er selbst Vater ist.
In welchen Momenten denkst du über die Flucht nach?
Wenn ich sehe, wie gut unsere Tochter es hier in Deutschland hat, dann merke ich noch mal ganz stark, wie richtig die Entscheidung meiner Mutter war, Polen zu verlassen.
Was war für euch der Grund zu gehen?
Die politische Lage in Polen. Aber auch die Familiengeschichte: Meine Vorfahren sind Deutsche. In Polen haben wir uns wie Fremde oder Gäste gefühlt – und wurden offen benachteiligt. Diese Diskriminierung wollten wir nicht mehr ertragen. Eine freie Entscheidung, das Land zu verlassen, war aber aufgrund der sozialistischen Regierung auch nicht möglich. Und meine Oma wollte nicht in einen Zug steigen, weil sie Angst hatte, im Vernichtungslager zu landen – als Vergeltung für das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg mit den Polen gemacht haben. Wir sind zu dritt abgereist.
Wie habt ihr es aus Polen heraus geschafft?
Der Zeitpunkt war günstig, die Grenzen waren schon etwas lockerer geworden. Das hat meine Mutter sofort erkannt – und die Chance ergriffen. Sie hat gesagt, dass sie Verwandte in Deutschland besucht. Ich denke, Skepsis war auf Seiten der Behörden durchaus da. Aber zu der Zeit war der Druck der Bevölkerung auf die Regierung in Polen schon so groß, dass die Kontrollen weniger streng waren als zuvor.
Heißt das, dass die Flucht relativ einfach gelaufen ist?
Der Weg über die Grenze, ja. Manche Dinge, die damit zusammenhängen, merke ich erst jetzt: Meine Tochter ist acht Jahre alt und meine Frau packt mehr und mehr ihre alten Kindersachen, Spielzeuge und Kleider für sie aus. Als unsere Tochter zum ersten Mal mit dem ersten Kuscheltier meiner Frau im Arm schlafen gegangen ist, ist mir noch mal ganz bewusst geworden: Wir haben wirklich alle Sachwerte in Polen zurückgelassen. Wo mein erstes Kuscheltier ist, weiß ich nicht. Als klar war, jetzt könnten wir es über die Grenze schaffen, hat meine Mutter alles verkauft. Es musste ja so aussehen, als würden wir nur Urlaub machen. In dem Alter, in dem unsere Tochter jetzt ist, saß ich im Zug und habe nicht gewusst, wo geht die Reise hin.
Hattest du denn da im Zug eine Vorstellung davon, wo ihr landen würdet?
Nein, absolut nicht. Das Einzige, das ich aus Deutschland kannte, waren Päckchen voller Bananen und Apfelsinen, wenn wir die von unseren deutschen Verwandten bekamen, dachte ich jedes Mal: Oh, mein Gott! Das ist herrlich! An den Geruch erinnere ich mich bis heute: Das roch nach Wohlsein, das roch nach Freiheit. Wie’s da ist, wo die Pakete herkamen, konnte ich nicht erahnen.
Und in Deutschland angekommen wart ihr dann erst mal die Polen…
Als wir angekommen sind, wurde der Pole in Deutschland angesehen, wie heute vielerorts jeder Flüchtling: mit einer Menge Vorurteilen.
Woran hast du das gemerkt?
Das wurde sehr direkt kommuniziert. Mit Sprüchen wie „Scheiß-Polen“ und „Ihr klaut ja immer“. Das hat sich über die Jahre ja zum Glück ein bisschen gegeben…
… und wurde ein bisschen auch durch neue Ziele, sprich neue Minderheiten ersetzt. Woran glaubst du, liegt es, dass Menschen vermeintlich schwächere und Neuankömmlinge offenbar so oft degradieren müssen?
Ich denke, Menschen haben generell oft Angst vor Neuem, vor Dingen und Menschen, die sie nicht kennen. Und ich fürchte, in Deutschland haben viele Angst, man könnte ihnen was wegnehmen. Dabei ist es andersrum! Wir in den 90ern und die, die jetzt kommen, sind für die Gesellschaft eine Bereicherung. Ich bin in Hamburg aufgewachsen und habe einen großen Multikulti-Freundeskreis. Das hat mich persönlich sehr bereichert. Ich bin offen und neugierig geworden und habe viel gelernt – über andere Menschen, andere Kulturen, Bräuche und Essen! Wer so was verweigert, der schränkt sich selbst ein.
Würdest du sagen, dass Schubladendenken trotz aller Offenheit immer noch ein Problem ist?
Absolut. Ich denke, viele Menschen haben immer noch zu viel Angst vor dem Unbekannten, vor anderen oder vor Kulturen, die sie nicht kennen. Das ist Schade. Sich vor anderen Kulturen zu verschließen schränkt ein.
Hast du etwas von dieser Verschlossenheit gespürt, als du mit deiner Familie aus Polen hierher gekommen bist?
Über die Vorurteile hinaus nicht. Ich bin gleich in die Schule und in eine sehr gemischte Klasse gekommen – mit Türken, Jugoslawen, Deutschen. Und alle haben sich rührend um mich gekümmert. Alle haben mit mir gesprochen – ich hab zwar erst mal kein Wort verstanden, aber du merkst ja, wenn du angesprochen wirst. Damals hatte man es in Großstädten leichter als auf dem Land, wo Flüchtlinge oder Migranten eher die Ausnahme waren.
Was gefällt dir an Deutschland?
Deutschland packt an und stellt sich Herausforderungen – Schubladendenken hin oder her. Vor dieser Tatkraft muss ich den Hut ziehen! Es läuft nicht alles perfekt, aber ich finde, dass Deutschland in diesem Fall zumindest wirklich versucht, Lösungen zu finden, anstatt Zäune zu bauen.
Was vermisst du hier?
Die Leichtigkeit. Bei allem, was hier gut und bewundernswert läuft, fehlt Deutschland manchmal eine gewisse Leichtigkeit. Wobei die Polen oft mit Hochachtung nach Deutschland schauen und sagen: Mit Disziplin schafft man halt mehr.