Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.
„Viele Flüchtlingskinder lachen noch. Das Verstehen, das Reflektieren kommt erst später“
Lebt in:
Berlin
Der Weg nach Deutschland:
1990 mit drei Jahren, größtenteils zu Fuß, von Kroatien über Slowenien und Österreich nach Bremen
In Begleitung von:
Seiner Mutter, seiner Oma und seinem Bruder, der Vater blieb in einem Bosnischen Konzentrationslager – insgesamt wurde er in zwölf KZs festgehalten
Im Gepäck:
Die Familien-Papiere
Die Rettung für Flüchtlingskinder ist, dass man sich, wenn man so klein ist, noch keine Gedanken über die Zukunft macht, sagt Franjo. Man macht einfach. Er muss es wissen, weil er selbst ein Flüchtlingskind ist. Die Kriegsbilder, die er trotzdem immer im Kopf behalten hat, ordnete er bewusst erst, als er erwachsen war. Seitdem rechnet Franjo auch nicht mehr zurück, wie lange er schon in Deutschland lebt.
Du warst drei, als du Bosnien verlassen musstest. Woran erinnerst du dich?
An einige Sequenzen. Vor allem an den Moment, als der Nachrichten-Moderator im Fernsehen gesagt hat, dass die Panzer jetzt über die Grenzen kommen, dass der Krieg erklärt ist. Ich weiß die Wortwahl nicht mehr. Aber ich weiß, dass wir sofort unsere Sachen für den Bunker, das war in dem Fall ein ausgegrabenes Loch mit Blechdach, gepackt haben, um uns zu verbarrikadieren. Flucht stand da erst mal gar nicht zur Debatte. Meine Oma hat im Garten noch die Bibel vergraben, meine Mutter hat drinnen den Fernseher versteckt. Dann haben wir uns in Sicherheit gebracht.
Was ist dann passiert?
Die Serben haben uns gefunden und die Männer von den Familien getrennt. Wir sind dann ohne meinen Vater weggebracht worden. Daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Ich weiß, dass wir oft in irgendwelchen Reihen standen und später dann in Bussen weggefahren sind. Ich weiß auch, dass meine Mutter mir oft die Augen zugehalten hat. Einmal habe ich gesehen, wie einem anderen Kind ein Messer an den Hals gehalten wurde, als Plünderer unseren Bus nach Geld und Gold durchsucht haben. Und ich erinnere mich, wie mein Vater im Bunker von uns weggerissen wurde. Er war in zwölf verschiedenen Konzentrationslagern. Ich habe ihn erst Jahre später wiedergesehen.
Hast du von ihm gehört?
Einmal konnte die Uno einen Kontakt herstellen. Da kam ein Brief an, zusammen mit einem geschnitzten Kettenanhänger aus Holz für mich.
Hast du diesen Kettenanhänger noch?
Nein. Ich habe ihn ein Jahr lang jeden Tag getragen. Aber an dem Tag, als mein Vater wieder zu uns kam, hat er sofort seinen Wert verloren.
Hattest du in der Zeit davor große Angst?
Ein bisschen vielleicht. Aber es ging alles so schnell, dass ich gar nicht realisiert habe, was los ist. Ich hab den Ernst der Lage zwar begriffen. Als schrecklich wahrgenommen habe ich die Situation damals aber noch nicht. Wahrscheinlich, weil ich ein Kind war. Das fällt mir auch jetzt auf, wenn ich zum Beispiel die Bilder der syrischen Flüchtlinge sehe: Viele der Kleinen lachen noch. Das Verstehen, das Reflektieren kommt erst später. Da gibt es so einen Moment, in dem du denkst: Scheiße, was ist da eigentlich passiert?
Hat während der Flucht niemand versucht zu erklären was passiert?
Jedenfalls erinnere ich mich daran nicht. Wahrscheinlich weil so was bei Kids ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus geht. Kinder wollen, dass ihnen warm ist, dass sie zu Essen haben, dass ihre Eltern in der Nähe sind. Wenn das gegeben ist, dann musst du einem Kind erst mal nicht erklären, was Krieg und Frieden ist.
Bei der Flucht wurdet ihr vom roten Kreuz unterstützt. Wussten deine Mutter und Oma, dass es nach Deutschland geht?
Nein. Von Deutschland hatten wir eigentlich nicht mal eine Vorstellung. Als zur Debatte stand Deutschland oder Kanada, hat meine Mutter Deutschland aus einem einzigen Grunds gewählt: Sie dachte, dass sie von hier aus leichter wieder zurück nach Hause kommt. Meine Eltern wollten nie aus Bosnien raus.
Hat dir das neue Land als Kind gefallen?
Total. Als Kind habe ich Unterschiede gar nicht wahrgenommen. Ich habe erst viel später gemerkt, dass es in Deutschland andere Regeln als in Bosnien gibt. Oder dass bei uns zu Hause einige Dinge anders gemacht werden als draußen. Bewertet habe ich das aber nie. Ich hab mich von beidem inspirieren lassen. Und als ich klein war, fand’ ich vor allem alles spannend. Allein so’n Karstadt! Da musste ich gar nichts kaufen. Man hätte mich in der Waschmaschinen-Abteilung oder sonstwo abgeben können – ich fand alles toll und interessant! Für mich war alles riesig und spannend. Bei uns in Bosnien war es viel ruhiger. Bis auf den Krieg dann natürlich…
Wo habt ihr in Deutschland gelebt?
Erst mal in einer Unterkunft für Frauen und Kinder. Meine Mutter hat dort Deutsch gelernt. Ihr war das sehr wichtig. Das war nicht bei allen so. Die Motivation zum Lernen ist eben nicht bei allen Menschen gleich. Wir haben ja auch nicht 80 Millionen Studenten in Deutschland. Manche brauchen länger oder haben andere Fähigkeiten. Ohne Landessprache ist es allerdings schwierig, irgendwo anzukommen. Deutsch sollte man schon können.
Wurdest auch du in Sachen Bildung von deinen Eltern besonders gepusht?
Ja. Meine Eltern haben mir immer wieder gesagt: Du musst besser sein als die anderen, weil du anders bist. Das hat mich genervt und verunsichert. Aber rückblickend hat es mich auch angespornt – und zum Nachdenken angeregt. Irgendwann habe ich mich dagegen entschieden, gegen die Meinung der Eltern, und gegen das ständige Beweisenmüssen. Das muss ich nicht. Und komme trotzdem sehr gut klar.
Was magst du besonders an Deutschland?
Das sind echt viele Sachen. Was mir nicht so gefällt, ist, dass jetzt in den Medien das rechtere Gedankengut so gepusht wird. Das entspricht nicht der Realität. Ich nehme Deutschland als ein sehr offenes, freies Land wahr. Natürlich muss man auch über den Hass berichten, das ist mir klar. Aber man sollte den Rassisten nicht so eine große öffentliche Lobby geben.
Wo fängt Rassismus für dich an?
Eigentlich schon mit Schubladendenken. Wobei das natürlich auch amüsant sein kann. Man muss nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Da kommt es eher auf den Ton, den Zusammenhang an. Nur wer gar nicht reflektiert, Vorurteile für allgemeingültig hält und Fremdenhass propagiert, der ist meines Erachtens nicht nur rechts, sondern dumm.
Wie kann man Flüchtlingen hier aktuell am besten Starthilfe geben?
Man kann zu ihnen gehen. Abgesehen von all den Spenden ist es am hilfreichsten, einfach auf die Leute zuzugehen, neben ihnen zu stehen, mit ihnen zu reden. Das ist das Wertvollste, wenn man neu in einem fremden Land ankommt. Integration funktioniert nicht mit Geld. Kindern reicht ein Tennisball.