WIRGEFÜHL

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.

Hadnet Tesfai

36, TV- und Radiomoderatorin

„Noch wichtiger als zu wissen: Da gehör ich hin, ist vielleicht zu wissen: Da komme ich her“



Lebt in:
Berlin

Der Weg nach Deutschland:
1982 mit drei Jahren von Eritrea über den Sudan und Saudi-Arabien ins Asylbewerberheim in Ludwigsburg, später nach Karlsruhe

In Begleitung von:
Ihrer Mutter und drei Geschwistern, der Vater konnte aus finanziellen Gründen erst zwei Jahre später nachkommen

Im Gepäck:
Nur das Nötigste


Wenn sie spricht, möchte man zuhören. Nicht nur im Fernsehen oder Radio. Hadnets Art zu erzählen ist so angenehm ruhig, dass sich ihr Gegenüber im Gespräch unbewusst entspannt. Immer wieder lässt sie Phrasen in perfektem Englisch einfließen. Die dritte Sprache, die Hadnet beherrscht, ist ihre Muttersprache: Tigrinya. Und das soll auch ihre sechs Monate alte Tochter später einmal können.



Wie wichtig sind dir deine Wurzeln?

Sehr, klar. Noch wichtiger als zu wissen „Da gehör ich hin“, ist vielleicht zu wissen „Da komme ich her“. Ich bin in einer großen, sehr lebendigen eritreischen Exil-Gemeinschaft groß geworden und meine Eltern waren da ziemlich aktiv. Für mich persönlich war dieser Bezug zu dem Land, in dem ich geboren bin, immer sehr wichtig – weil das auch nie im Gegensatz zu dem stand, was die Integration in Deutschland von mir verlangt hat.



Wann nach eurer Flucht warst du das erste Mal wieder in Eritrea?

Wir haben das Ende des Krieges abgewartet, der erst 1991 vorbei war, und ab 1992 war die Einreise möglich. Also knapp zehn Jahre später. Da gab es dann auch eine ganze Welle von Eritreern, die sofort zurückgezogen sind.



Wäre das auch für deine Familie denkbar gewesen?

Nein, auf keinen Fall. Ich war damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums, meine Geschwister gingen auch auf die weiterführenden Schulen. Wir haben in der Familie kurz diskutiert, aber Bildung und Ausbildung waren für uns der Grund, hier zu bleiben.



Ein guter Grund?

Auf jeden Fall. Ich bin generell froh darüber – und sehe auch an anderen, die zurückgegangen sind: Wenn du einen signifikanten Teil deiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht hast und dann zurück in ein anderes Land musst, auch wenn es deine Heimat ist, du bist dann einfach ein bisschen entwurzelt.



Stichwort Bildung: Hattest du in der Schule mehr leisten müssen, weil du, platt gesagt, Ausländer warst?

Ne, dass die Leistungen stimmen müssen, war bei uns in der Familie sowieso klar. Besonders für meinen Vater. Ich glaube, er hat damit auch eine Option kompensiert, die ihm selbst in Eritrea gefehlt hat. Ich will nicht sagen, dass meine Eltern richtig Druck gemacht hätten – aber bei uns zu Hause wurde das wie ein Mantra wiederholt: In der Schule gut sein, in der Schule gut sein. Zum Glück ist mir das nicht allzu schwer gefallen. Und meine Schule war in einem Außenbezirk, da gab es außer mir noch zwei andere mit Migrationshintergrund. Meine Geschwister waren in der Stadt, und da waren die Zustände, gerade in den Achtzigerjahren und gerade in Schwaben, leider wirklich asozial, das kann man nicht anders sagen. Da wurde zu den Migranten auch schon mal gesagt: Jetzt hab dich mal nicht so, Hauptschule reicht doch aus für dich. Was mein Bruder sich da so anhören musste, war schon ekelhaft.



Klingt so.

Ja, und man darf nicht vergessen: Your Company makes you! Auch heute gilt ja, wenn in einer Klasse nur Kids sitzen, die kaum deutsch sprechen, wie sollen es die anderen dann lernen? Und vielen immigrierten Eltern fehlt leider oft das Selbstbewusstsein, sich bei Beleidigungen oder ungünstigen Bedingungen zu beschweren.



Ganz generell: Wie können wir als Gesellschaft speziell Flüchtlinge unterstützen?

Na, auf jeden Fall ist die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, super, super wichtig. Meine Mutter war noch dazu verpflichtet, relativ sofort einen Deutschkurs an der Fachhochschule zu machen. Abgesehen davon ist Offenheit natürlich schön, und ich mag diese neue Willkommenskultur in Deutschland – ich frage mich nur, wie lange die anhält. Ich denk mir dazu immer so’n bisschen: Ach, Freunde, ihr müsst die nicht unbedingt alle am Bahnhof abholen mit Fähnchen und Applaus wie bei ’nem Marathon. Erleichtert ihnen lieber auf lange Sicht das Ankommen! Gebt ihnen Hilfestellungen, gebt ihnen Wohnungen, versucht sie zu integrieren – ohne diesen Alltagsrassismus.



Wie erlebst du so einen Alltagsrassismus?

Besonders fällt mir der auf, wenn er von Leuten kommt, die’s noch nicht mal merken, sich wahrscheinlich noch als besonders politisch korrekt geben. Alltagsrassismus bemerke ich aktuell gerade am Beispiel eines Bekannten. Das ist ein sympathischer, gebildeter Typ, der gerade erst nach Deutschland gekommen ist. Er hatte Probleme, eine Wohnung zu finden, weil viele Vermieter sich ihre Wohnung nicht vom Amt bezahlen lassen wollen – was schlimm genug ist. Mein Bruder, der einen relativ hippen Laden in Berlin-Mitte hat, hat dann rumgefragt und auch was angeboten bekommen. Als der Besitzer der Wohnung dann aber gemerkt hat, dass sie nicht für meinen Bruder, sondern für jemanden ist, der gerade aus Eritrea kommt, hat er das Angebot offen zurückgenommen, mit der Ansage: „Das ist doch nichts für den hier in Mitte, das versteht der doch gar nicht.“ Mein Bruder hat geschäumt vor Wut. Und ich hab auch echt lange nichts so Ekelhaftes mehr gehört.



Fühlst dich generell wohl in diesem Land?

Absolut.



Wusste deine Familie im Moment der Flucht, wo sie hinkonnte?

Im ersten Moment nicht. Da ging es nur darum, das Land und den Krieg zu verlassen. Der wird übrigens in den Medien hier oft als Bürgerkrieg bezeichnet. Alle Eritreer würden es ihren Unabhängigkeitskrieg nennen. Auf unserer Zwischenstation in Saudi-Arabien mussten wir uns dann für ein Ziel entscheiden.



Wonach entscheidet man so was?

Das ist das Gleiche wie heute noch: Du entscheidest dich für das Land, das den besten Ruf in Sachen Aufnahmechancen hat. Die Übermittlung von solchen Infos hat früher natürlich länger gedauert. Heute haben viele Flüchtlinge Smartphones. Das erleichtert natürlich vieles. Bei uns hat es echt gedauert, bis die Kunde da war.



Wie ging es hier für euch weiter?

Für meine Mutter mit vielen Herausforderungen. Aber du wirst niemals ein Wort der Klage von meinen Eltern hören. Sie sind die tapfersten Menschen, die ich kenne. Dabei glaube ich, dass die Anfänge oft wahnsinnig frustrierend gewesen sein müssen. Die beiden waren jeweils die Einzigen aus ihren Familien, die geflohen sind. Sie waren allein in einem Land, ich will das jetzt nicht zu hart sagen, aber das sie mehr oder weniger ausgebeutet hat. Ein Land, das sie aufgenommen und ihnen bestimmte Möglichkeiten gegeben hat – aber eben auch nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Berufsausbildungen meiner Eltern wurden in Deutschland nicht anerkannt. Sie waren dazu verdammt, ein Leben lang Aushilfsjobs zu machen – beziehungsweise im Falle meines Vaters in seinem eigentlichen Job nur als Aushilfe eingestellt zu werden. Und noch heute würde sich meine Mutter nicht wundern, wenn sie aus irgendeinem Grund ausgewiesen würde. Nicht weil es einen handfesten Grund gäbe. Es ist keine krampfhafte Angst und Sorge, die sie immer im Hinterkopf hat. Aber sollte jemand kommen und sagen: „Vielen Dank, Frau Tesfai, aber Sie werden jetzt nicht mehr gebraucht!“, würde sie sich nicht einmal darüber wundern – und das nach 30 Jahren!