WIRGEFÜHL

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.

Mariam Noori

28, Autorin

„Globalisierung darf nicht nur dann funktionieren, wenn es um wirtschaftliche Aspekte geht. Europa ist auch eine Gemeinschaft der Menschlichkeit“



Lebt in:
Hamburg

Der Weg nach Deutschland:
1995 mit sechs Jahren, dank gekaufter Visa, im Flugzeug von Afghanistan in die Ukraine und weiter nach Hamburg

In Begleitung von:
Ihren Eltern

Im Gepäck:
Ein gelbes Stoffküken namens „Küken“


In ihren Büchern geht es nicht durch Zufall um Migration. Mariam schreibt sie, weil das Thema sie beschäftigt, weil es Teil ihrer eigenen Geschichte ist. Weniger weil sie glaubt, aufgrund dieser Geschichte eine spezielle Verantwortung zu tragen. Denn die trägt in unserer Gesellschaft jeder, sagt Mariam – auch wenn einige sie besser erfüllen können als andere. Die Autorin selbst ist in drei verschiedenen Kulturen aufgewachsen und versucht, zwischen allen zu vermitteln.



Was war für euch der Grund zur Flucht?

Meine Mutter kommt aus der Ukraine, mein Vater hat dort studiert. Er kommt ursprünglich aus Afghanistan, wo er später auch zum Wehrdienst musste. Da sind die beiden gependelt, später auch mit mir. Eine ganze Zeit lang war das kein Problem. Aber in den Neunzigerjahren herrschte dann in beiden Ländern Ausnahmezustand: In Afghanistan tobte der Bürgerkrieg und die Ukraine war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Korruption geprägt, teilweise waren Mafiabanden an der Macht. Nun hatten wir schon zwei Heimaten – und beide standen regelrecht vor dem Untergang. Da haben sich meine Eltern gezwungenermaßen entschieden, nach Europa zu fliehen.



Nach Europa oder ganz gezielt nach Deutschland?

Gezielt nach Deutschland, nicht wegen des Landes, sondern weil einer meiner Onkel schon hier gelebt und uns den ersten Monat lang in seiner Einzimmerwohnung aufgenommen hat. Hätten wir jemanden in einem anderen friedlichen Land gekannt, wären wir wahrscheinlich dort gelandet. Einfach um jemanden zu haben, der einem am Anfang ein bisschen über die Runden hilft.



Konntest du dich von deinen Verwandten in Afghanistan und der Ukraine verabschieden?

Das schon, aber ohne viel Drumherum, da eine Flucht heimlich organisiert werden musste. Weil ich ja schon vorher viel unterwegs war, habe ich das Ausmaß dieser speziellen Reise gar nicht sofort wahrgenommen. Erst als wir schon länger in Deutschland waren, habe ich den Verlust bemerkt. Besonders den meiner ukrainischen Großeltern, bei denen ich, während meine Mutter studiert hat, quasi aufgewachsen war. Wegen der politischen Situation und auch wegen unserer finanziellen Lage konnte ich sie jahrelang nicht besuchen.



Konntest du das als Kind verstehen?

Ich denke, vieles versteht man als Flüchtlingskind erst mal nicht. Bevor wir nach Deutschland gekommen sind, war ich umsorgt von vielen Verwandten und total verwöhnt, ich hatte alles. Und dann kommt man hier an und hat erst mal gar nichts mehr. Wir haben ziemlich lange in einem Asylbewerberheim in Hamburg Veddel gelebt. Und weil zu der Zeit auch im Kosovo Krieg war, war das Heim ziemlich überfüllt. Die Toiletten auf dem Flur waren ständig besetzt. Wir waren die ersten Jahre richtig, richtig arm. Und das spürst du als Kind schon. Da merkst du einfach: Alles ist anders.



Erleichtert es die Flucht, wenn man ein bisschen Geld hat?

Absolut. Das darf man aktuell auch nicht vergessen: Viele der Menschen, die jetzt in Deutschland ankommen, gerade die Leute aus dem Iran, aus Afghanistan oder auch aus Syrien, hatten vorher einen gewissen Lebensstandard. Das ist mindestens die obere Mittelschicht, die es überhaupt hier rüberschafft, da eine Flucht recht teuer ist. Viele die hier angekommen sind, sind Intellektuelle, die in ihrer Heimat politisch verfolgt werden.



Gab es jemanden, der euch beim Ankommen besonders geholfen hat?

Niemand spezielles. Im Asylbewerberheim und auch in der Zeit danach hat man sich einfach untereinander geholfen. Da herrschte immer so ein unausgesprochener Zusammenhalt unter den Flüchtlingen. Das war schön – aber man war doch auch sehr isoliert von der deutschen Gesellschaft. Das Heim war in einem Viertel mit sehr hohem Migrantenanteil, in meiner Klasse waren fast nur Ausländerkinder, später bekamen wir eine Wohnung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg zugeteilt, wo der Migrantenanteil ebenfalls relativ hoch ist. Als meine Eltern die Mittel hatten, von dort wegzuziehen, taten sie das sofort. Einfach, weil sie die Entwicklungsmöglichkeiten für mich und meinen Bruder in einem besseren Stadtteil für größer hielten. Viele andere erhalten diese Chance nicht. Meine erste deutsche Freundin hatte ich, als ich 18 war. Vorher hätte es die Möglichkeit für mich kaum gegeben. Und das sehe ich rückblickend schon als wirklich problematisch an.



Siehst du diese Problematik auch in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingssituation?

Absolut. Es gibt Wohngebiete, da kann man wirklich schon von Ghettoisierung sprechen. Da sollte man sich wirklich drum kümmern, dass in Zukunft eine heterogenere Mischung entsteht! Flüchtlinge und generell Migranten sind schließlich auch ein Teil unserer Gesellschaft. Oder soll man das jetzt einfach ausblenden? Man kann ja nicht so tun, als würde es diese Menschen nicht geben und sie einfach irgendwo in die Randgebiete stecken – so kann ja gar keine gesellschaftliche Entwicklung stattfinden! Im Gegenteil: Vor allem vermehrt diese Vorgehensweise die Probleme und lässt die Kerbe nur tiefer werden. Da bleibt’s in den besagten Vierteln natürlich bei mehr Armut und weniger Bildung. Und die Vergangenheit, die gerade Flüchtlinge mit sich herumtragen, birgt, wenn niemand sich damit beschäftigt, auch psychisch oft ein größeres Aggressionspotenzial. Wenn man da anfangen würde, nur ein bisschen zu mischen, könnte man schnell einen viel größeren Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft schaffen. Da bin ich mir sicher.



Wie kann die Gesellschaft deiner Meinung nach Flüchtlingen bei der Integration helfen?

Nicht nur am Engagement in den großen Camps, auch an vielen Kleinigkeiten kann man sehen: Viele Privatpersonen tun schon wirklich viel, um den Flüchtlingen hier einen guten Start zu ermöglichen.



Hast du das Gefühl, dass es aktuell auch einfach zum guten Ton gehört, sich zu engagieren?

Ich denke, die Krise war uns nie so nah. Früher hat man es sich vielleicht ein bisschen einfacher machen können, nach Afrika spenden zum Beispiel. Jetzt steht das Elend vor der Tür. Da muss man quasi raus. Und da ergibt sich dann sicher auch so eine Art Gewissens-Kettenreaktion. Die sozialen Netzwerke erleichtern solche Aktionen natürlich auch. Das ist gut. Vor allem müssen aber Politik und Verwaltung jetzt noch mehr machen.



Inwiefern?

Ich muss ehrlich sagen, dass ich die Signale, die Deutschland in vergangener Zeit nach außen gesendet hat, recht vorbildlich fand. Immerhin haben wir zusammen mit Schweden die meisten Flüchtlinge aufgenommen – und sehr viel für Menschlichkeit und Zusammenhalt geworben. Was ich vermisse, ist einen echten Plan dahinter: Die Zustände in den Erstaufnahmestellen sind teilweise desolat, die Bürokratie verzögert Integrationsprozesse erheblich, es wird ein starkes Gefühl der innenpolitischen Überforderung vermittelt, was Ängste und Ressentiments innerhalb der Gesellschaft nur schürt. Auch Ursachenbekämpfung und Nachhaltigkeit sind in diesem Kontext wichtig: Solange keine Lösungen gefunden werden, um die Lage in den Heimatländern zu stabilisieren und den Menschen dort ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, hat man sich um diese Flüchtlinge zu sorgen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für unsere Nachbarländer. Globalisierung darf ja nicht nur dann funktionieren, wenn es um wirtschaftliche Aspekte geht. Europa ist auch eine Gemeinschaft der Menschlichkeit.



Alles andere als menschlich ist der Krieg, der in den beiden Heimatländern deiner Eltern noch immer herrscht. Wie fühlst du dich damit?

Sehr schlecht. Nach knapp 40 Jahren Krieg in Afghanistan hat man sich leider fast schon an die Situation gewöhnt, doch der Krieg in der Ukraine kam für uns unerwartet. Meine Großeltern kommen aus Donezk, sie sind mittlerweile zu Binnenflüchtlingen geworden. Auch an diesem Krieg trägt die EU eine große Verantwortung. Ich vermisse meine Großeltern, ich vermisse den Strand an der Krim. Mit meiner Großmutter zu telefonieren und im Hintergrund Bombeneinschläge zu hören ist krass. Ich habe wirklich Angst um meine Familie drüben.



Was gibt dir in Hinblick auf die Situation in der Ukraine Zuversicht und Hoffnung im Alltag?

Ehrlich gesagt, das Einzige, was wirklich hilft, ist diese Dinge zeitweise zu verdrängen. Anders hält man es nicht aus.