WIRGEFÜHL

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.

Thomas Kretschmann

53, Schauspieler

„Ich bin nicht wo hingegangen – ich bin wo weggegangen. Flüchtlinge kommen nicht zum Spaß. Flüchtlinge versuchen, sich zu retten“



Lebt in:
Los Angeles und Berlin

Der Weg nach Deutschland:
1983 mit 20 Jahren innerhalb von zwei Wochen von Dessau über Ungarn, Jugoslawien und Österreich nach Westberlin

In Begleitung von:
Niemandem

Im Gepäck:
Seinen Pass


Sein direkter Blick wird noch fester, wenn Thomas über die Flucht spricht. Darüber, dass er es auch nicht hätte schaffen können, hat er nie nachgedacht. Ihm war nur klar: Ich muss hier weg. Den Mut dazu hat Thomas, der heute in Hollywood-Filmen wie „Der Pianist“ und „Wanted“ spielt, sich damals selbst zugesprochen. Ohne Familie oder Freunden davon zu erzählen, ohne Gepäck und ohne Ziel ist der Schauspieler mit 20 Jahren aus der DDR geflüchtet und über die wilde Grenze zwischen Ungarn und Jugoslawien gerannt.



Warum hast du dich entscheiden, zu Fuß zu flüchten?

Ich wusste, dass es in diesem Waldgebiet zwischen Ungarn und Jugoslawien keine Selbstschussanlagen oder Minen gibt. Und ich dachte: Auf menschliches Handeln, also auf die Patrouillen mit ihren Gewehren, da kann ich zur Not drauf reagieren. Das schaffe ich. Zur Not bleibe ich eben stehen und gehe ins Gefängnis.



Oder wirst erschossen…

Oder so. Aber über diese Möglichkeit habe ich gar nicht erst nachgedacht. Ich musste weg.



Gab es für deine Flucht ein Schlüsselmoment?

Na, weg wollten eigentlich fast alle. Das sogenannte Icing on the Cake kam für mich dann in der Schauspielschule: Ich hatte vorgesprochen, bin auch genommen worden und im Aufnahmegespräch war ein Typ im grauen Plastikanzug dabei – ich wusste gleich, wo der hingehört: Stasi, klar. Man hatte da einfach so’n Instinkt im Osten. Man wusste, wann man ausgehorcht wird. Wenn da so einer in diesem speziellen Ton gesagt hat (verstellt die Stimme): „Erzählen Sie mal…“ Da läuft’s mir noch heute kalt den Rücken runter. Wegen dieser Gewalt, der Gewalt über dich. Denn im Klartext hieß das: Wenn du dich jetzt freiwillig statt zu den üblichen eineinhalb Jahre gleich zu drei Jahren als Unteroffizier verpflichten lässt, dann bekommst du deinen Studienplatz. Wenn nicht, dann kriegt den jemand, der das Sozialistenprogramm mitmacht. Deshalb habe ich brav Ja gesagt – dann bin ich nach Dessau gefahren, hab meine Sachen gepackt und bin geflüchtet – und über die wilde Grenze zwischen Ungarn und Jugoslawien gerannt.



Du hast das deutlich als Gewalt wahrgenommen?

Klar, das war Gewalt. Psychische Gewalt. Eigentlich sogar eine allumfassende Gewalt, eine Vergewaltigung deines Lebens.



Wird diese Gewalt von Menschen, die solche Situationen nicht kenne, unterschätzt?

Wahrscheinlich ja. Aber auch psychische Gewalt ist durchaus Gewalt, Angriff, Beschneidung. Wir wurden Tag und Nacht überwacht. Von meiner Flucht habe ich nicht mal meiner Mutter erzählt, so allgegenwärtig war die Bespitzelung. Ich wusste nicht, wem ich wirklich trauen kann.



Außer deiner Mutter, was hast du in Ostdeutschland zurückgelassen?

Ich hab mein ganzes Leben zurückgelassen. Ich hab meine Familie zurückgelassen, ich hab meine Heimat zurückgelassen. Ich hab alles zurückgelassen – ich bin ja nicht wo hingegangen, irgendwo hin, wo ich hin wollte. Ich bin in erster Linie wo weggegangen. Und das ist auch aktuell der Punkt, den man nicht vergessen darf: Flüchtlinge kommen nicht zum Spaß, weil sie unbedingt in Deutschland leben wollen. Die versuchen sich zu retten, ihre Familien und Kinder zu retten oder frei zu leben. Und jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf Freiheit.



Wann hast du das für dich so klar gehabt?

Sehr früh, weil ich in der DDR Leistungsschwimmer gewesen bin. Da hatte man einen klaren Leistungsauftrag: Wir wurden richtig gezüchtet, ich bin jeden Tag 20 Kilometer geschwommen. Vor allem wurde aber auch da schon extrem hingeschaut, wie wir politisch drauf sind, wo und wie wir uns bewegen und äußern. Ich glaube aber an Eigenverantwortung, und ich möchte mein Leben selbst bestimmen. Das wäre in der DDR niemals möglich gewesen.



Wie empfindest du die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland?

Erschreckend finde ich, dass sich die Politik kaum mit den Ursachen für die vielen Fluchten beschäftigt. Wo bleibt die Frage danach, was wir für die Länder tun können, aus denen geflüchtet wird? Da höre ich höchstens Gregor Gysi mal drüber reden. Dabei ist es doch nicht nur wichtig, den Menschen in Deutschland zu helfen, sondern vor allem gegen die Probleme in ihren Heimatländern vorzugehen. Wir liefern teilweise Waffen in diese Länder. Das ist doch ekelhaft! Wir sollten uns als internationale Welt zusammentun und alles dafür tun, dass diesen Menschen nicht in Massen Lebensgrundlage und Heimat genommen wird. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man in Kauf nimmt, nie wieder zurückzugehen, seine Mutter nie mehr wiederzusehen.



Wie gefällt dir die Willkommenskultur in Deutschland?

Die finde ich ganz, ganz toll. Das sehe ich besonders, wenn ich in anderen Ländern bin. In England zum Beispiel wird aktuell auch mal bewundernd hier rübergeguckt. Ich finde es sehr wichtig, den geflüchteten Leuten zu zeigen, dass sie kein Dreck sind. Und irgendwo müssen sie sich ja eine neue Lebensgrundlage aufbauen.



Wo ist für dich heute Heimat?

Die Frage ist für mich eher was. Und das sind meine Werte. Die drücke ich allerdings anderen nicht auf! Auch nicht in den USA. Ich bin ja nicht in die USA gegangen, um mal ein bisschen Deutschland nach Amerika zu bringen. Und das wollen die meisten Flüchtlinge auch nicht! Den wenigsten geht es darum, dass Deutschland muslimisch wird oder so. Die Dinge werden sich vermischen, klar. Aber die Sache ist doch ganz klar: Entweder wir leben miteinander – oder wir bringen uns um.