WIRGEFÜHL

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnte verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Hier sind ihre Gesichter, hier sind ihre Geschichten.

Umes Arunagirinatha

37, Arzt

„Es ist wichtig zu erklären, warum du Hilfe brauchst, wer du bist und wo du herkommst. Das lässt andere besser verstehen – und motiviert sie zu helfen“



Lebt in:
Hamburg

Der Weg nach Deutschland:
Mit zwölf Jahren mit Schleppern in acht Monaten von Sri Lanka über Nigeria und Spanien nach Hamburg

In Begleitung von:
Niemandem

Im Gepäck:
100 US-Dollar und einen Ring, den seine Mutter aus Silber und Glückssteinen gefertigt hat, die zu Umes Sternbild passen. Er trägt ihn immer noch


Als 1983 der Bürgerkrieg begann, war Umeswaran, der in Deutschland von allen Umes genannt wird, fünf Jahre alt. Bis er zwölf war, blieben die Unruhen für ihn und seine Familie Alltag. Dann beschlossen seine Eltern, Umes wegzuschicken – zu seinem eigenen Besten. Er flüchtete allein bis nach Hamburg, kämpfte dort seine ganze Jugend lang gegen die Abschiebung. 2008 bekam Umes die deutsche Staatsbürgerschaft. Für seine Fortbildung zum Herzchirurgen steckt der Arzt aktuell im Umzug ins bayrische Bad Neustadt an der Saale. Hamburg zu verlassen sei für ihn, wie zum zweiten Mal seine Heimat zu verlieren, sagt Umes. Trotzdem freut er sich darauf, neue Erfahrungen zu sammeln. Die alten hat er in einem Buch aufgeschrieben. Er hofft, mit seiner Geschichte andere Flüchtlinge motivieren zu können.



Warum haben deine Eltern dich weggeschickt?

Sobald man zwölf Jahre alt war, musste man damals auf Sri Lanka zum Militär, sprich in den Krieg. Wer verweigerte, wurde verdächtigt, Mitglied der radikalen Separatisten, der Tamil Tigers, zu sein und deshalb eingesperrt – was ungefähr genauso schlimm gewesen wäre.



Wurdet ihr damals vom Krieg überrascht oder haben sich die Unruhen langsam entwickelt?

Für mich war das eher eine Entwicklung. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr deutlich an den Tag, an dem ich zum ersten Mal Soldaten wahrgenommen habe. Da wusste ich nicht gleich: So, jetzt ist Krieg. Die Atmosphäre war einfach unruhig, man spürte die allgemeine Skepsis. Das war für mich als Kind durchaus beängstigend. Irgendwann sind wir dann auch bombardiert worden. Eigentlich regelmäßig. So etwa ab meinem neunten Lebensjahr mussten wir deswegen regelmäßig unser Haus verlassen und uns ein Versteck suchen.



Kann man sich auf eine gewisse Art an so etwas gewöhnen – oder steigert sich die Angst mit den Kriegsjahren?

Man gewöhnt sich an einiges. Zum Beispiel daran, in der Nacht plötzlich aufzustehen und wegzurennen. Ich glaube, dass man sich als Mensch generell an fast alles irgendwie gewöhnen kann. Auch an den Krieg. Aber die psychische Belastbarkeit, die kommt dabei irgendwann an ihre Grenzen. Selbst wenn man das in dem Moment gar nicht merkt. Ich persönlich war allerdings damals schon ziemlich ängstlich. Auch im Vergleich zu den anderen Kindern.



Wie bist du damit umgegangen?

Erst mal relativ pragmatisch. Man ist einfach auch immer wieder abgelenkt vom Alltag: Man ist auf der Suche nach einem sicheren Ort, man ist auf der Suche nach Essen. So eine Situation lässt dich patent und praktisch werden: Ich habe zum Beispiel mal mitten in dem Durcheinander einen kleinen Obst- und Gemüsestand an der Straße aufgemacht, um ein bisschen Geld für die Familie zu verdienen. Ich war als Kind sehr redegewandt, ich konnte gut Dinge verkaufen. Und ich habe auch nie ein Problem damit gehabt, irgendwo an der Tür zu stehen und zu sagen, ich brauche Hilfe oder ich habe Hunger. Das konnte ich damals – und das kann ich jetzt auch.



Hat dir das später in Deutschland weitergeholfen?

Ja. Dabei ist es aber meiner Erfahrung nach auch ganz wichtig zu erklären, warum genau du Hilfe brauchst. Vielleicht auch wer du bist und wo du herkommst. Das lässt andere besser verstehen – und motiviert sie so zu helfen. Ich bin davon überzeugt, dass in jedem Menschen irgendwo etwas Soziales steckt.



Sprichst du da aus Erfahrung?

Natürlich. Ich habe, seit ich in Deutschland angekommen bin, selbst wirklich sehr viel Hilfe bekommen, Menschen haben für mich gekämpft, sind auf die Straße gegangen, haben Behörden angerufen. Gerade auf meiner Schule früher, da wurde ich schon sehr unterstützt, als es darum ging, meine Abschiebung zu verhindern. Aber auch jetzt sieht man ja gerade, wie viele Leute auch einfach so helfen wollen, Essen verteilen, Kleider verschenken, an den Bahnhöfen stehen. Auch wenn einige bestimmt auch Ängste haben.



Was sind das deiner Meinung nach für Ängste?

Na, dass ihr Zuhause, ihre Gesellschaft durch die vielen neuen Leute irgendwie zerstört oder verändert werden könnte. Das sind ja ganz typische Ängste. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – nicht nur bei uns in Deutschland. Als die Inder damals als Flüchtlinge nach Sri Lanka kamen, da haben auch nicht alle Tamilen die sofort herzlich willkommen geheißen.



Mit diesem Wissen war es für deine Eltern bestimmt umso schwieriger, dich ganz allein auf einen anderen Kontinent zu schicken…

Natürlich. Das ist eigentlich unvorstellbar! Aber meine Mutter hatte einen Bruder in Hamburg. Dass ich bei ihm eine Anlaufstelle hatte, hat es ein bisschen einfacher gemacht. Außerdem hatte meine Mutter damals schon ein Kind verloren: Meine Schwester ist mit zwölf Jahren an einem Nierenleiden verstorben. Hätte es weniger Krieg und mehr Ärzte auf Sri Lanka gegeben, dann hätte man ihren Tod verhindern können. Meine Eltern wollten mich schützen. Und ich wollte lernen! Ich wollte auch selbst die Schule nicht verlassen, um zum Militär zu gehen. Meine Eltern haben sich Geld geliehen, einen Schlepper gefunden – und der wollte mich eigentlich innerhalb von einer Woche nach Deutschland bringen. Keiner konnte Ahnen, dass daraus acht Monate werden.



Hat deine Mutter diesen Plan vorher mit dir besprochen?

Nicht so richtig. Ich wusste, dass ich ins Ausland komme und habe mich darauf gefreut. Ich war schon als Kind eher ein Optimist, und ich war kein Streber, aber die Aussicht auf Schule fand ich gut. Außerdem ist ein Kind auch noch nicht so sehr in der Lage, alle Risiken von so einer Flucht wirklich zu ermessen. Ein Kind macht dann irgendwie das Beste draus. Ich hatte nur mein Ziel vor Augen: Ich gehe ins Ausland, ich werde Arzt und dann schicke ich Geld für meine Eltern.



Hast du dich verantwortlich gefühlt?

Natürlich. Ich bin der älteste Sohn. Da übernimmt man die Verantwortung – auch finanziell. Manche tun das mit 30, bei mir war es eben schon mit 12. Ich wusste: Ich muss jetzt etwas aus mir machen. Und das hat mir auch geholfen, muss man sagen. Die emotionale Belastung der Flucht, die bürokratischen Hindernisse in Deutschland, damit kommt man besser klar, wenn man immer fest vor Augen hat, was man erreichen will.



War dir denn auch klar, dass du deine Familie wahrscheinlich sehr lange nicht wiedersiehst?

Eines Tages ja. Es war der 6. Januar 1991, das vergesse ich nie. Da wurde mir das schlagartig bewusst. Da musste ich mich von meinen Eltern verabschieden. Ich hatte kaum Gepäck. Die Adresse und Telefonnummer meines Onkels hatte ich auswendig gelernt. Ich habe geweint ohne Ende, aber ich durfte es nicht zeigen. Die Schlepper haben gesagt: Wenn du weinst, können wir dich nicht mitnehmen. Es wäre zu auffällig gewesen. Ich musste stark sein und allein in ein Flugzeug steigen.



Für viele Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellbar.

Vielleicht. Aber ich hatte durch den langen Krieg ja längst gelernt, meine Emotionen zu unterdrücken. Der Krieg hat mich unbewusst auf meine Flucht vorbereitet. Und meine Flucht hat mich unbewusst auf einen sicheren Aufenthalt in Deutschland vorbereitet. Oder umgekehrt: Der Kampf gegen die Abschiebungen war immer noch einfacher, als mit zwölf allein in Afrika unterwegs zu sein. Und das wiederum war einfacher, als im Bürgerkrieg zu sein…



Hast du das alles jetzt erkannt oder schon früher so wahrgenommen?

Ich habe mich bewusst mit meinen Erlebnissen auseinandergesetzt. Es gibt ja auch viele Menschen, die für immer von ihrer Flucht traumatisiert sind. Sicher auch, weil sie nicht in der Lage sind, von dem, was sie erlebt haben, zu erzählen. Das ist allerdings, denke ich, ein sehr harter Verarbeitungsprozess.



Wem hast du davon erzählt?

Ich habe geschrieben. Und dann erst haben die Leute langsam angefangen zu fragen: Wirklich? Das hast du erlebt? Danach konnte ich dann besser direkt über meine Erlebnisse sprechen. Auch in der aktuellen Flüchtlingssituation darf man nicht vergessen: Wir sind hier vielleicht skeptisch und ängstlich – aber auch die, die herkommen haben Angst! Wir sind ja für die auch völlig Fremde. Über Gespräche baut sich Vertrauen auf.



Wie kann dabei geholfen werden?

Mit Flüchtlingskindern kann man zum Beispiel malen. Das fällt vielen leichter und ist universell, auch wenn sie unsere Sprache noch nicht sprechen. Sobald sie sprechen können, sollte man sie dann behutsam zum Erzählen oder Aufschreiben bewegen. Einfach für sich, als Therapie.



Was erleichtert deiner Meinung nach die Integration?

Jeder muss sich da anpassen. Ob er will oder nicht. Es ist wie in einem Zimmer, in einem Raum, der von den Menschen gestaltet wurde, die darin wohnen. Wer neu in so einen Raum kommt, muss ihn sich erst mal anschauen, die Regeln lernen, die in diesem Raum gelten. Und dann kann er diesen Raum nach diesen Regeln vielleicht auch mal mitgestalten. Ich meine, wer neu nach Deutschland kommt, der muss das Grundgesetz und die Gepflogenheiten akzeptieren. Das hat auch mit Respekt zu tun.



Welcher wäre ein guter Weg dahin?

Der führt meines Erachtens vor allem über die Kinder, über die Schulen. Dort muss ihnen von klein auf die Werte dieser Gesellschaft vermittelt werden. Am besten sollte es Quoten für Grundschulen geben, eine Art 80-zu-20-Schlüssel, der nicht mehr als 20 Prozent fremdsprachige Kinder pro Klasse erlaubt. Außerdem würde ich jeden Flüchtling oder Migranten zu zehn Wochenstunden in einer praktischen Tätigkeit verpflichten. In Restaurants, Kindergärten oder Altersheimen – am besten wirklich Menschen begleiten. Das kann man anfangs auch ohne Sprachkenntnisse machen. Und man lernt dabei Land und Kultur kennen. Migranten müssen mit Deutsch in Kontakt kommen! Am besten sollte jeder, der einen Asylantrag stellt, ergänzend noch verpflichtende Deutschstunden belegen – plus Kurse, die die Deutsche Kultur erklären. Wie man miteinander umgeht, wie man sich verhält, wie man sich gegenüber Frauen verhält und all das. So eine kombinierte Lösung sollte jetzt vom Staat geschaffen werden, um das Entstehen einer Parallelgesellschaft zu verhindern.



Hältst du das für eine große Gefahr?

Nein, ich halte das für einen Fakt. Die Parallelgesellschaft gibt es schon. Dabei kann das doch nicht der Weg sein! Es muss doch im Interesse aller sein, dass die Menschen, die zu uns kommen, einmal sagen können, ich bin Deutscher. Wir wollen, dass die Fremden, die alle Flüchtlinge anfangs sind, zu uns gehören, dass wir auch eine Einheit sind. Und das schafft man in dem man diesen Menschen zeigt, wie’s hier läuft. Und das fängt mit der Sprache an und geht mit Arbeit weiter. Die meisten Einwanderer sind jung. Warum sagt man denen nicht: Hey, du verpflichtest dich zu einer Ausbildung in einem Bereich, in dem Fachkräfte gesucht werden, dafür bekommst du einen Deutschkurs und eine Unterkunft.



Solange es eine solche Lösung nicht gibt: Welche Tipps würdest du all denen geben, die jetzt neu nach Deutschland kommen?

Deutsch lernen, neugierig auf das neue Land sein und seinem eigenen Weg folgen. Man sollte seine Wurzeln nicht verlieren. Aber man muss offen dafür sein, auch neue Wurzeln hier entstehen zu lassen. Das ist wie bei einem Baum: Wenn ich einen Baum aus Sri Lanka transportiere und alle Wurzeln abschneide, kann er nicht mehr existieren, also muss ich die dort gewachsenen mitnehmen. Aber dieser Baum wächst ja auch noch weiter, und es kommen neue Wurzeln dazu. Die muss der Baum dann auch akzeptieren. Weil die genauso wichtig sind. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt für mich. Immigrierte Eltern sollten keine Verlustängste haben, wenn ihre Kinder Deutsch lernen oder deutsch sein wollen. Sie behalten ihre Wurzeln doch. Und sie müssen weiter wachsen – sonst besteht die Gefahr, dass Parallelgesellschaften entstehen.



Was magst du an Deutschland?

Die gesellschaftliche Toleranz. Toleranz ist etwas, was ich in Deutschland gelernt habe. Und ich mag die Zuverlässigkeit, die Pünktlichkeit und die Sauberkeit. Und ich finde es sehr gut, dass hier so viel Wert auf Ausbildung gelegt wird. Jeder Verkäufer hat eine Ausbildung! So bildet man Fachkräfte aus. Diese Gewissenhaftigkeit in der Wirtschaft, in der Technik, in deutschen Produkten, die spiegelt sich, glaube ich, in der ganzen Gesellschaft wieder. Und unser Gesundheitssystem finde ich klasse.



Hattest du überhaupt eine Vorstellung davon, wie es hier sein könnte?

Nee, überhaupt nicht. Aber ich bin sehr froh, dass ich hier bin. Auch wenn ich finde, dass man sich in Deutschland auch nach 25 Jahren noch eher wie ein Ausländer fühlt als beispielsweise in London oder in Toronto, wo meine Schwester lebt. Das hat wahrscheinlich mit der Geschichte zu tun.



Wo fängt für dich Rassismus an?

Das weiß ich gar nicht, weil ich sagen muss, dass ich doch relativ oft damit konfrontiert war. Gar nicht gewalttätig oder so. Aber als ich früher noch Tellerwäscher war, um neben dem Studium Geld zu verdienen, da hat der Koch immer Witze über Schwarze gemacht und auch das Wort mit N benutzt. Aber klar, konnte ich nichts sagen. Ich war damals klein, abhängig und habe vom Tellerwaschen gelebt. Das hat mich schon ganz schön geärgert! Nicht schlimm finde ich, wenn man gefragt wird, wo man eigentlich herkommt. Das nervt zwar manchmal, ist aber ja eigentlich nur Neugier. Und ich selbst frage andere das auch.



Was würdest du Menschen raten, die nicht wissen, wie sie jetzt auf Flüchtlinge zugehen sollen?

Man sollte es einfach machen. Offen sein, lächeln und freundlich nicken. Ich glaube, beim ersten Kennenlernen sollte man den Körper des anderen nicht berühren, auch nicht die Hand geben. Die eigene Hand aufs Herz legen, das ist in jeder Gesellschaft als Begrüßung akzeptiert, ja, die Hand auf das Herz, das ist immer eine sehr freundliche Geste.